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Tarifliche Zuschläge für Nachtarbeit; Halbierung bei Schichtarbeit; Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien; Anpassung „nach oben“

Es folgen die Orientierungssätze des Urteils des BAG vom 09.12.2020 – 10 AZR 334/20 -:

 

1. Nach deutschem Recht üben die Tarifvertragsparteien keine delegierte Staatsgewalt, sondern – privatautonom – ihre Grundrechte aus, wenn sie auf der Grundlage von Art. 9 Abs. 3 GG Normen setzen. Tarifvertragliche Regelungen sind gerichtlich deshalb nicht umfassend am Maßstab der Verhältnismäßigkeit zu überprüfen (Rn. 26).

 

2. Die Tarifvertragsparteien können jedoch durch die Ausstrahlungswirkung von Art. 3 Abs. 1 GG darin beschränkt sein, ihre Tarifautonomie als kollektivierte, von Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Privatautonomie auszuüben. Das allgemeine Gleichheitsgrundrecht des Art. 3 Abs. 1 GG bildet als grundlegende Gerechtigkeitsnorm und verfassungsrechtliche Wertentscheidung eine ungeschriebene Grenze der Tarifautonomie. Tarifnormen sind im Ausgangspunkt uneingeschränkt am allgemeinen Gleichheitsgrundrecht zu messen. Das gilt auch dann, wenn die Kollision zwischen der Tarifautonomie und den Grundrechten der Normunterworfenen nicht durch einfaches Gesetzesrecht konkretisiert ist (Rn. 27 ff.).

 

3. Als selbständigen Grundrechtsträgern steht den Tarifvertragsparteien aufgrund der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie eine Einschätzungsprärogative zu, soweit die tatsächlichen Gegebenheiten, die betroffenen Interessen und die Regelungsfolgen zu beurteilen sind. Sie verfügen über einen weiten Gestaltungsspielraum für die inhaltliche Ausformung ihrer normsetzenden Regelungen, dessen Reichweite im Einzelfall von den Differenzierungsmerkmalen abhängt. Ein Verstoß gegen das allgemeine Gleichheitsgrundrecht ist vor diesem Hintergrund erst dann anzunehmen, wenn die Tarifvertragsparteien es versäumt haben, tatsächliche Gemeinsamkeiten oder Unterschiede der zu ordnenden Lebensverhältnisse zu berücksichtigen, die so bedeutsam sind, dass sie bei einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise hätten beachtet werden müssen (Rn. 41 f.).

 

4. Die Arbeitsgerichte haben die Grundrechte der von Tarifnormen erfassten Arbeitnehmer zu schützen, indem sie die Grundrechtsausübung durch die Tarifvertragsparteien beschränken, wenn sie mit den Freiheits– oder Gleichheitsrechten oder mit anderen Rechten der Normunterworfenen mit Verfassungsrang kollidiert (Rn. 29).

 

5. Art. 3 Abs. 1 GG verlangt für das Maß der Differenzierung einen inneren Zusammenhang zwischen den vorgefundenen Verschiedenheiten und der differenzierenden Regelung. Dieser innere Zusammenhang muss sich als sachlich vertretbarer Unterscheidungsgesichtspunkt von hinreichendem Gewicht erweisen. Bei der Prüfung am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG ist zu berücksichtigen, ob die Arbeitnehmer darüber verfügen können, die Differenzierungsmerkmale zu verwirklichen (Rn. 33 ff., 69).

 

6. Tarifvertragliche Ausgleichsregelungen im Sinn von § 6 Abs. 5 ArbZG müssen die mit der Nachtarbeit verbundenen Beeinträchtigungen kompensieren. Das kann durch bezahlte freie Tage oder einen Zuschlag auf das Bruttoarbeitsentgelt für die während der Nachtzeit geleisteten Arbeitsstunden geschehen (Rn. 43 ff., 47 f.).

 

7. Nach gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen schadet Nachtarbeit der Gesundheit. Die gesundheitliche Belastung durch Nachtarbeit steigt nach bisherigem Kenntnisstand in der Arbeitsmedizin durch die Zahl der Nächte im Monat und die Zahl der aufeinanderfolgenden Nächte, in denen Nachtarbeit geleistet wird. Bislang ist nicht arbeitswissenschaftlich belegt, dass aufeinanderfolgende Nachtschichten signifikant weniger gesundheitsschädlich sind, wenn Arbeitnehmer nach einem im Voraus bekannt gegebenen Schichtplan eingesetzt werden (Rn. 70 ff.).

 

8. Ein höherer Zuschlag für unregelmäßige Nachtarbeit kann nicht mit dem Hinweis gerechtfertigt werden, sie habe Ausnahmecharakter (Rn. 82).

 

9. Die im Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Brauereien und deren Niederlassungen in Hamburg und Schleswig-Holstein vom 29. Oktober 2005 (MTV) enthaltene Differenzierung zwischen den Zuschlägen für Nachtarbeit in § 9 Nr. 1 Buchst. b iVm. § 8 Nr. 5 MTV und für Nachtschichtarbeit in § 9 Nr. 1 Buchst. d MTV verstößt gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Sie halbiert die Zuschläge für Nachtschichtarbeit nach § 9 Nr. 1 Buchst. d MTV gegenüber den Zuschlägen für Nachtarbeit nach § 9 Nr. 1 Buchst. b MTV. Beide Arbeitnehmergruppen sind vergleichbar. Dem MTV ist kein Sachgrund für die Differenzierung zwischen den Zuschlägen für Nachtarbeit und für Nachtschichtarbeit zu entnehmen (Rn. 49 ff., 55 ff., 73 ff.).

 

10. Der gleichheitswidrige Zustand muss in einem solchen Fall bis zum Inkrafttreten einer diskriminierungsfreien tariflichen Neuregelung durch eine Anpassung „nach oben“ beseitigt werden. Die Anpassung „nach oben“ hat sich an der günstigeren Regelung zu orientieren. Sie enthält das einzig verbleibende gültige Bezugssystem. Eine Derogation allein der benachteiligenden Regelung mit der Folge, dass die im Tarifvertrag entstandene Lücke durch die gesetzliche Regelung in § 6 Abs. 5 ArbZG geschlossen wird, kommt nicht in Betracht. Die Aussetzung des Rechtsstreits bis zu einer Neuregelung scheidet ebenfalls aus, weil schon nicht sichergestellt werden kann, ob und ggf. wann sich die Tarifvertragsparteien auf eine diskriminierungsfreie Neuregelung verständigen werden (Rn. 87 ff., 94 ff.).