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Allgemeinverbindlicherklärung; Wirksamkeit; Tarifverträge des Baugewerbes

Orientierungssätze des Beschlusses des BAG vom 21.03.2018 – 10 ABR 62/16 -:

 

1. Die Antragsbefugnis für ein Verfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 5, § 98 ArbGG bezieht sich regelmäßig einheitlich auf die Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) eines bestimmten Tarifvertrags. Wird die AVE aber hinsichtlich einzelner Vorschriften eines Tarifvertrags auf § 5 Abs. 1 TVG, hinsichtlich anderer Vorschriften auf § 5 Abs. 1a TVG gestützt, bedarf es wegen der unterschiedlichen Rechtswirkungen beider Teile der AVE jeweils der eigenständigen Darlegung einer Antragsbefugnis.

 

2. Das Rechtsschutzbedürfnis für einen Antrag auf Feststellung der Unwirksamkeit einer AVE ist durch das Inkrafttreten des SokaSiG auch für solche Tarifnormen nicht entfallen, die nunmehr auch kraft Gesetzes gelten sollen.

 

3. Haben Beteiligte ihre Antragsbefugnis und ihr Feststellungsinteresse nur darauf gestützt, dass sie als Betriebe ohne Beschäftigte auf Zahlung des Mindestbeitrags für das Berufsbildungsverfahren (§ 17 VTV) in Anspruch genommen werden, entfällt – abgesehen von Fällen des Rechtsmissbrauchs – die Antragsbefugnis, wenn aufgrund eines Verzichts der Sozialkasse eine Inanspruchnahme auf Grundlage der streitgegenständlichen AVE nicht mehr in Betracht kommt.

 

4. Die Unwirksamkeit einzelner Tarifnormen führt grundsätzlich nicht zur Unwirksamkeit des gesamten Tarifvertrags, wenn dieser ohne die unwirksame Regelung noch eine sinnvolle und in sich geschlossene Regelung darstellt. Deshalb bleibt auch die Wirksamkeit einer AVE von der Unwirksamkeit einzelner Tarifnormen unberührt.

 

5. Es bestehen keine vernünftigen Zweifel an der Tariffähigkeit oder Tarifzuständigkeit der Tarifvertragsparteien des Baugewerbes im Hinblick auf die durch die AVE vom 6. Juli 2015 erstreckten Tarifverträge des Baugewerbes vom 10. Dezember 2014.

 

6. Der Begriff des gemeinsamen Antrags nach § 5 Abs. 1 Satz 1 und § 5 Abs. 1a Satz 1 TVG ist materiell-rechtlich zu verstehen, nicht formal. Die gemeinsame Unterzeichnung einer Urkunde durch die Tarifvertragsparteien ist nicht erforderlich. Vielmehr kann eine Tarifvertragspartei gleichzeitig in Vertretung für die andere(n) Tarifvertragspartei(en) wirksam einen solchen Antrag stellen.

 

7. Die AVE eines Tarifvertrags kann sowohl nach § 5 Abs. 1 Satz 1 TVG als auch nach § 5 Abs. 1a Satz 1 TVG nur im Einvernehmen mit dem Tarifausschuss erfolgen. Wegen der Verdrängungswirkung des § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG muss der Tarifausschuss eine AVE auf Grundlage des § 5 Abs. 1a Satz 1 TVG deshalb ausdrücklich billigen. Diese Ermächtigungsgrundlage muss wegen des Grundsatzes der Normenklarheit in der Bekanntmachung nach § 5 Abs. 7 TVG angegeben sein.

 

8. Der Gegenstand eines Verfahrens nach § 2a Abs. 1 Nr. 5, § 98 ArbGG ergibt sich aus der ministeriellen Entscheidung über den Erlass der AVE. Dies umfasst die Frage, auf welcher Grundlage die AVE ergangen ist. Ein Austausch der Rechtsgrundlagen kommt im Verhältnis zwischen § 5 Abs. 1 und § 5 Abs. 1a TVG nicht in Betracht.

 

9. Einzige materielle Voraussetzung für den Erlass einer AVE nach § 5 Abs. 1 TVG ist, dass diese im öffentlichen Interesse geboten erscheint. Eine solche demokratisch legitimierte ministerielle Entscheidung unterliegt nur einer eingeschränkten gerichtlichen Überprüfung.

 

10. § 5 Abs. 1 Satz 1 TVG ist der Grundtatbestand, der die Voraussetzungen für die AVE von Tarifverträgen festlegt. Dieser wird durch zwei alternativ nebeneinanderstehende Regelbeispiele in Satz 2 konkretisiert. Sind die Tatbestandsvoraussetzungen eines Regelbeispiels erfüllt, wird gesetzlich vermutet, dass ein öffentliches Interesse an der AVE besteht. Im Rahmen des ministeriellen Beurteilungsspielraums müssen daher besondere Umstände oder gewichtige entgegenstehende Interessen vorliegen, um bei Erfüllung der Regelbeispiele des § 5 Abs. 1 Satz 2 TVG ein öffentliches Interesse zu verneinen.

 

11. Die Annahme der überwiegenden Bedeutung eines Tarifvertrags iSv. § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TVG liegt vor, wenn sich die Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer im Geltungsbereich des Tarifvertrags nach den Rechtsnormen des Tarifvertrags bestimmen, unabhängig davon, auf welcher rechtlichen Grundlage dies erfolgt. Eine Gestaltung im gesetzlichen Sinn fehlt – abgesehen vom Anwendungsgereich des Günstigkeitsprinzips –, wenn die für allgemeinverbindlich zu erklärenden Normen nur teilweise, in veränderter Form oder „annähernd“ im Arbeitsverhältnis Anwendung finden.

 

13. Der Anwendungsbereich des § 5 Abs. 1a TVG ist nur eröffnet, wenn ein Tarifvertrag über eine gemeinsame Einrichtung mit einem oder mehreren der aufgeführten Regelungsgegenstände für allgemeinverbindlich erklärt werden soll. Nur Tarifverträge, die überwiegend einen solchen Regelungsgehalt haben, können nach dieser Norm für allgemeinverbindlich erklärt werden und die hieran anknüpfenden besonderen Rechtswirkungen auslösen. Sind in einem solchen Tarifvertrag andere Tarifnormen enthalten, können diese (nur) unter den dort genannten Voraussetzungen nach § 5 Abs. 1 TVG für allgemeinverbindlich erklärt werden.

 

14. Neben dem Ziel der Sicherung der Funktionsfähigkeit der gemeinsamen Einrichtung durch den Tarifvertrag verlangt auch § 5 Abs. 1a TVG das Bestehen eines öffentlichen Interesses für die beantragte AVE. Das öffentliche Interesse besteht nach der gesetzlichen Regelung grundsätzlich und kann nur dann verneint werden, wenn besonders gewichtige Umstände oder überragende entgegenstehende Interessen gegen den Erlass der AVE sprechen.

 

 

 

15. Weder § 5 Abs. 1 noch § 5 Abs. 1a TVG unterliegen verfassungsrechtlichen Bedenken. Eine Aufrechterhaltung der 50 %-Quote (§ 5 Abs. 1 Satz 1 TVG aF) durch den Gesetzgeber war verfassungsrechtlich nicht geboten.