LOHN+GEHALT special April 2020 Z E I TW I R T S C H A F T 5 fehlender Dokumentation der Zei- ten, sondern vor allem, weil vorbe- reitende Tätigkeiten oder Fahrten oftmals per Definition längst nicht mehr zur bezahlten Arbeitszeit zählen. Das Institut für Arbeits- markt- und Berufsforschung (IAB) vermeldet für das dritte Quartal 2019 rund 6,2 bezahlte und 5,4 un- bezahlte wöchentliche Überstunden pro Beschäftigtem. Nichts Neues vom Minister Wenn man dies so genau weiß, ist es dann nicht wirklich Zeit für eine inhaltlich tiefgehende Neuregelung, die mehr tut, als nur die gängi- ge Praxis auf den Buchstaben des Urteils aus Luxemburg umzuschrei- ben? Das fragt sich offenbar auch das Arbeitsministerium selbst. Hatte die Behörde im Herbst des vergangenen Jahres noch angekün- digt, die Frage, welche gesetzgeberi- schen Konsequenzen aus dem Urteil für Deutschland erwachsen würden, bis zum Jahreswechsel 2019/2020 klären zu wollen, heißt es nun nur: „Vorläufig ist davon auszugehen, dass das Urteil Auswirkungen auf das deutsche Recht hat.“ Das machte auch der EuGH selbst schon vor zehn Aprilen deut- lich, indem er die Mitgliedstaaten explizit verpflichtete, für ein objek- tives, verlässliches und zugängliches System zu sorgen, dass den Beson- derheiten des jeweiligen Tätigkeits- bereichs oder Eigenheiten, sogar der Größe, bestimmter Unternehmen selbstverständlich Rechnung tragen dürfte. Dass bei einer Ausgestaltung des EU-tauglichen Gesetzes in Berlin nun aber nicht nur die Beschaffen- heit von Stechuhren, sondern viele allgemeine Arbeitsrechtsgrößen mitverhandelt werden, liegt auf der Hand. Zunahme der Arbeitszeit- konten indiziert freiwillige Erfassung Nicht umsonst verweist das Arbeits- ministerium erneut darauf, dass zur Umsetzung von Vorgaben aus EuGH-Entscheidungen anders als bei EU-Richtlinien, die in der Regel zwei Jahre Aufschub erlauben, keine festgelegten Fristen gelten. Das lässt eine Menge zeitlichen Spielraum – nach hinten. Staatliche Arbeits- marktforscher verstehen indes die Aufregung um das Urteil als solches ohnehin nicht. Ein Großteil der Befürchtungen sei unnötig, denn für viele Unter- nehmen werde sich de facto am Ende rein in Bezug auf die Pflicht zur Erfassung wohl nicht wirklich viel ändern, heißt es aus dem IAB in Nürnberg. Schließlich erfasse ein großer Teil der Firmen auch heute Arbeitszeiten, selbst bei Vertrau- ensarbeitszeit jenseits der Stechuhr dokumentierten Mitarbeiter oftmals selbst. Eine valide Statistik der Anzahl der Betriebe, die Arbeitszeit exakt erfassen, gibt es nicht, wohl aber eine über Arbeitszeitkonten. Laut IAB hatten zuletzt – 2016 – fast zwei Drittel der Beschäftigten im Finanz- und Versicherungswesen Arbeitszeitkonten, obwohl nur gut ein Viertel der Banken und Versiche- rungsunternehmen diese anbot. Das indiziert klar, dass vor allem größe- re Firmen ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Arbeitszeitkonten einrichten – eine Tendenz, die sich auch in anderen Branchen findet, wenngleich weniger stark. Höchstens ein Drittel überhaupt betroffen Insgesamt verfügten im selben Jahr 2016 rund 56 Prozent der Beschäf- tigten aller Branchen in Deutsch- land über ein Arbeitszeitkonto, und 35 Prozent der Betriebe boten ein solches an. Rund 15 Jahre zuvor waren dies erst 18 Prozent gewesen, der Anteil der Beschäftigten hatte damals bei 35 Prozent gelegen. Aus diesen Zahlen lässt sich schließen, dass zumindest 56 Pro- zent – und inzwischen vermutlich deutlich mehr – der deutschen Ar- beitnehmerinnen und Arbeitnehmer eine systematische Erfassung ihrer Zeiten im Dienst erfahren. Denn wo nichts gemessen werden würde, könnte nichts ausgeglichen werden. Rechnet man nun den Zuwachs der vergangenen 15 Jahre bis ins Jahr 2020 linear hoch, käme eine erst- malige Erfassung von Arbeitszeit höchstens auf etwa ein Drittel der Beschäftigten zu. Bei den Betrieben sieht die Rechnung zwar etwas anders aus: Hier müssten – rein modellthe- oretisch gerechnet – zwar schon rund 55 Prozent der Firmen neu in die Erfassung einsteigen. Aller- dings gilt: Diejenigen Betriebe, von denen hier unterstellt wird, dass sie die Arbeitszeit erfassen, sind nur diejenigen, die Arbeitszeitkonten anbieten. Selbstverständlich gibt es darüber hinaus auch noch jene, die zwar aufzeichnen, aber ihrer Belegschaft diese Möglichkeit nicht offerieren, so dass die tatsächliche Zahl der Unternehmen mit Zeiter- fassung deutlich über 50 Prozent liegen dürfte. Worüber eigentlich verhandelt wird Das heißt allerdings nicht gleich- zeitig, dass auf sie alle keinerlei Anpassungsaufwand zukäme, wenn ein neues Gesetz greift. Denn allein die Tatsache, dass die Arbeits- zeit irgendwie festgehalten wird, heißt nicht, dass dies zukünftigen Vorschriften genügt. Zumindest die auf Unternehmen bezogene Gesetzgebung der vergangenen Jahre war oftmals vor allem miss- trauensgeprägt und stets darauf bedacht, etwaiges Fehlverhalten von vornherein durch ein hohes Maß an Reglement zu unterbinden. Anders gesagt: Maxime der Gesetzgebung ist es, mit möglichst hohen bürokratischen Hürden die Umgehung von Vorschriften zu erschweren. Ob dies auch in puncto Arbeitszeiterfassung so sein wird, ist ungewiss. Am wahrscheinlichs- ten ist derzeit, dass das Ergebnis am Ende dem Spiel der Kräfte innerhalb der gegenwärtigen oder künftigen Koalitionäre unterliegt, was ganz allgemeine Regeln zur Arbeitszeit betrifft. W Alexandra Buba